Ehemaliger Bush-Berater Kaplan über den Irakkrieg "Ein Jahr der Anarchie kann schlimmer sein als hundert Jahre Tyrannei" Er war einer der prominentesten Befürworter des Irakkriegs, bis heute hadert der ehemalige Bush-Berater Robert D. Kaplan damit. Nun hat er ein Buch über die Invasion geschrieben - mit verblüffenden Lehren für die Gegenwart.

Von Bernhard Zand

20.03.2023, 11.07 Uhr o aus DER SPIEGEL 12/2023

Wracks irakischer Militärfahrzeuge am Stadtrand von Bagdad, Mai 2003
Foto: Jamal Saidi / Reuters

Die Kleinstadt Stockbridge, tief im Westen von Massachusetts, ist ein Refugium der Wohlhabenden und Gebildeten aus Boston und New York. Hier haben sie sich ihre Cottages errichtet, Landhäuser im Neuengland-Stil. Interlaken heißt einer der Ortsteile der 2000-Seelen-Gemeinde am Fuß der Berkshire Mountains. Nach Stockbridge kann man sich gut zurückziehen von den Schauplätzen amerikanischer Außenpolitik, militärischer Abenteuer und Kriege.

Abstand gibt Überblick. Im Arbeitszimmer von Robert D. Kaplan hängen Landkarten an den Wänden, ein Fenster öffnet sich auf einen Fluss hinaus. Am anderen Ufer ist ein Golfplatz zu erkennen, dahinter die Türme einer Kirche und eines Veteranendenkmals. "Es sieht sehr ländlich aus hier", sagt Kaplan, "aber das täuscht." Auch Kaplans Habitus - Jeans, Sportschuhe, sein zurückhaltender Ton - täuscht über sein intellektuelles Kaliber hinweg.

Kaplan ist einer der einflussreichsten politischen Denker der USA - und einer der am weitesten Gereisten: In New York geboren, hat er als junger Mann in Portugal, Israel und Griechenland gelebt und später für Zeitungen wie das "Wall Street Journal" berichtet, aus Osteuropa, Afrika, dem Nahen Osten und Asien.

Autor Kaplan: "Man hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können."
Foto: John Stanmeyer

Sein Buch über das zerfallende Jugoslawien, "Die Geister des Balkan", las Bill Clinton während der Nato-Intervention im Bosnienkrieg. Sein Essay "The Coming Anarchy" warnte schon früh vor den politischen Folgen von Klimawandel, Urbanisierung und Bevölkerungswachstum im Globalen Süden.

In seinem neuen Buch, "The Tragic Mind", analysiert Kaplan eine Entscheidung, die vor genau 20 Jahren fiel, bis heute als eine der größten Fehlleistungen amerikanischer Außenpolitik gilt und die Kaplan selbst, wie er schreibt, in eine "klinische Depression" stürzte: die Irak-Invasion, die am 20. März 2003 begann. Kaplan zählte damals zum Beraterteam von Präsident George W. Bush. Wie kam es dazu, dass ausgerechnet er, einer der nüchternsten geopolitischen Beobachter seines Landes, zu einem so prominenten Fürsprecher des Irakkriegs wurde? Und was hat er daraus gelernt?

Kaplan kannte den Irak, er hatte das Land in den Achtzigerjahren bereist, auf dem Höhepunkt von Saddam Husseins Diktatur: Die Atmosphäre der Gewalt, schreibt er, "war so erstickend wie die Hitze und der Staub vor den mit Maschinengewehren bewachten Mauern des Präsidentenpalasts". Im Krieg gegen Iran und gegen die Kurden im Nordirak hatte Saddam Giftgas eingesetzt, und Kaplan sah die Opfer, 1984, in den Huwaisa-Sümpfen am Tigris: Leichen iranischer Soldaten, von Saddams Truppen aufeinandergestapelt. "Die Iraker waren stolz darauf." Diese Erfahrung prägte Kaplan. Er hatte aus Syrien, Sierra Leone und aus Nicolae Ceausescus Rumänien berichtet. "Aber ich hatte nie eine Tyrannei wie diese erlebt", sagt er. "Man hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ich fragte mich: Was könnte schlimmer sein als das?"

Im November 2001 nahm er auf Einladung des stellvertretenden Verteidigungsministers an einer Geheimsitzung teil und arbeitete an einem internen Dokument mit, das für die Invasion im Irak plädierte. "Ich dachte damals vor allem an den Aspekt der Sicherheit", sagt Kaplan heute. Saddams Luftabwehr habe auf US-Maschinen in den beiden Flugverbotszonen geschossen, "es ging also die Angst um, dass ein amerikanischer Pilot abgeschossen und durch die Straßen von Bagdad geschleift werden könnte".

"Ein Jahr der Anarchie kann schlimmer sein als hundert Jahre Tyrannei"

Kaplan war nicht der Einzige, der sich für die Invasion aussprach, die einen Konflikt nach sich zog, der mehr als 100.000 Menschenleben kostete. Beide Häuser des US-Kongresses stimmten dafür, im Senat unter anderen die späteren Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton und John Kerry sowie der heutige Präsident Joe Biden. Anders als viele Politiker aber stellt sich Kaplan seiner Entscheidung und schont sich dabei nicht: "Ich hatte meinen Emotionen erlaubt, die leidenschaftslose Analyse außer Kraft zu setzen. Ich war an meiner Prüfung als Realist gescheitert."

Ein Jahr nach Kriegsbeginn kehrte Kaplan in den Irak zurück und "erlebte etwas, das viel schlimmer war als selbst der Irak der Achtzigerjahre: die blutige Anarchie aller gegen alle, die Saddams Regime mit extremer Brutalität unterdrückt hatte". Seit damals klinge ihm ein Wort des persischen Philosophen Abu Hamid al-Ghasali im Ohr: "Ein Jahr der Anarchie kann schlimmer sein als hundert Jahre Tyrannei."

Ein extremer Satz, der, zu Ende gedacht, jede Revolution und erst recht jede ausländische Intervention gegen autoritäre Regime ausschließt. Wer kann schon garantieren, dass der Sturz eines Diktators nicht zum Chaos führt?

"Al-Ghasali hat übertrieben", sagt Kaplan. Aber warum wiederholt er dann den Satz in seinem Buch, wenn er den tyrannischen Irak Saddams mit dem anarchischen nach der US-Invasion vergleicht? Kaplan antwortet mit einem anderen Philosophen: "Der Mensch, sagt Albert Camus, revoltiert, und solange es Geschichte gibt, wird es Revolutionen geben. Aber auch der Revolutionär trägt eine Verantwortung, nämlich die, für eine bessere Ordnung zu planen. Und wenn eine Ordnung etabliert ist, dann besteht die Aufgabe, sie weniger und weniger tyrannisch zu machen."

"Geopolitik ist von Natur aus tragisch"
Robert D. Kaplan

Es sind Philosophen wie Camus, aber vor allem die Dramatiker des antiken Griechenland, bei denen Kaplan Rat sucht für die großen Fragen moderner Geopolitik. Denn der Konflikt zwischen Ordnung und Chaos, das zentrale Thema der griechischen Tragödie, sei bis heute einer der Kernpunkte verantwortungsbewusster Staatskunst.

"Geopolitik", sagt Kaplan, "ist von Natur aus tragisch." Und tragisch sei, entgegen herkömmlicher Wahrnehmung, nicht der Sieg des Bösen über das Gute: "Der Holocaust, der Völkermord in Ruanda, der Krieg in Bosnien - das waren keine Tragödien, sondern gewaltige und grauenhafte Verbrechen. Eine Tragödie liegt vor, wenn zwei Dinge Anspruch auf unser Gewissen haben, wir aber nur eines davon wählen können. Es ist der Konflikt zwischen einem Gut und einem anderen. Indem man das eine dem anderen vorzieht, verursacht man Leiden."

Das hätten die Griechen verstanden, weil sie damit umgehen konnten, "dass es unterschiedliche Wege gibt zu scheitern - von denen manche besser sind als andere. Wer die alten Griechen studiert, versteht, dass man manchmal etwas akzeptieren muss, das nur zu 55 Prozent gut ist und zu 45 Prozent schlecht".

Sturz von Saddam-Denkmal in Bagdad am 9. April 2003
Foto: Goran Tomasevic / REUTERS

Für den letzten amerikanischen Präsidenten, der im Sinne dieser "tragischen Sensibilität" gehandelt habe, hält Kaplan George H. W. Bush, den Vater des Mannes, der in den Irak einmarschierte. "Der ältere Bush hat als Präsident drei bemerkenswerte Dinge getan: Er fror nach dem Tiananmen-Massaker 1989 die Beziehungen zu China ein - aber er brach sie nicht ab. Er drehte nach dem Fall der Berliner Mauer keine Siegerrunde durch Osteuropa - um zu vermeiden, die Sowjets zu verärgern. Und er warf die Iraker 1991 aus Kuwait hinaus - aber er unterließ es, nach Bagdad zu marschieren und Saddam Hussein zu stürzen."

Kaplans Lehre aus dem Irakkrieg von 2003 ist keine einfache und radikale. Er ist nicht grundsätzlich gegen militärische Interventionen, aber er fordert viel größere Vorsicht und Verantwortung ein, als sie der jüngere Bush - auch auf seinen Rat hin - damals walten ließ. Politikern, die wie Bushs Vater selbst Erfahrungen mit Krieg und Tod gemacht hätten, falle das leichter als anderen. Aber die Verpflichtung, "tragisch zu denken", gelte auch für diese.

Amerikas "missratene militärische Abenteuer"

Der Krieg um Kuwait 1991, die Interventionen im ehemaligen Jugoslawien, in Afghanistan, im Irak und in Libyen 2011 - im Rückblick verteidigt Kaplan nur die beiden ersten. Was aber lehren Amerikas "missratene militärische Abenteuer" seither für den großen Konflikt unserer Zeit, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine?

Kaplan, im Gespräch sonst so pessimistisch wie in seinem Buch, ist überraschend zuversichtlich. Keiner dieser Konflikte lasse sich mit dem Ukrainekrieg vergleichen, doch Präsident Biden, sagt er, tue das Richtige: "Er schickt keine Truppen in die Ukraine - anders als Bush im Irak. Er setzt auch keine Bomber ein - anders als Obama in Libyen. Er unterstützt die Ukraine mit Waffen im Wert Dutzender Milliarden, um eine rivalisierende Großmacht zu schwächen. Und er tut, was er kann, um eine Ausweitung des Krieges auf die Nato zu vermeiden." Kaplan sagt: "Biden hat aus den Erfahrungen im Irak gelernt."

Der Irakkrieg wurde mit dem erklärten Ziel geführt, Saddam zu stürzen, seine Partei, seine Armee und seinen Sicherheitsapparat zu zerschlagen. Das ist gelungen, um den Preis Zehntausender Menschenleben und einer Kaskade unbeabsichtigter Folgen, vom Aufstieg des "Islamischen Staates" bis zur Stärkung des Regimes in Teheran. Hätten die Griechen diese Art von Sieg nicht nach dem Molosserkönig Pyrrhos benannt, man könnte ihn nach George W. Bush benennen.

Auch wenn heute vereinzelt Anspielungen auf einen "Regime Change" in Russland fallen - bislang hält das Tabu, das der Irakkrieg nach sich zog: Wer welches Land regiert, sollten die Menschen dieses Landes entscheiden. Dass ausgerechnet der US-Präsident selbst öffentlich über das Ende von Putins Herrschaft gesprochen hat ("Bei Gott, dieser Mann kann nicht länger an der Macht bleiben!"), schreibt Kaplan der "losen Rhetorik" eines Mannes zu, der sich ansonsten als "überwiegend kompetent" erwiesen habe.

Und dass um Bidens Kurs gestritten wird, hält Kaplan für ein gutes Zeichen. Fast jedes Waffensystem, das in die Ukraine geschickt werde, löse im Pentagon eine Debatte aus. "Auch deshalb kommen die Waffen nicht so schnell dort an, wie viele Interventionisten das wollen. In diesem Sinn sind viele mit Biden unzufrieden. Er ist sehr langsam und überlegt sich das gut. Aber ich glaube, dass das die richtige Politik ist."

Ist sie zu ängstlich? Kaplans Buch kann durchaus als ein Plädoyer für die Angst gelesen werden, im Leben wie in der Politik. "Angst rettet uns vor so vielen Dingen", zitiert er den britischen Schriftsteller Graham Greene. Er würde lieber von "konstruktivem Pessimismus" sprechen, sagt Kaplan: "Ich bedenke alle schlimmen Dinge, die mir oder meiner Nation widerfahren können. Wenn ich alle Gründe berücksichtige, warum ich etwas nicht tun sollte, und mich dann trotzdem dafür entscheide, ist es wahrscheinlich die richtige Entscheidung."


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